Die Identifizierung mit sich selbst

Nach Eckhart Tolle entsteht die Identität von Nationen oder Parteien durch eine starke Anhaftung an kollektive Gedankenformen, Überzeugungen und Emotionen, die sich oft über Generationen hinweg gefestigt haben. Diese kollektive Identität, die Eckart Tolle als "kollektives Ego" bezeichnet, basiert auf der tief verankerten Überzeugung von Trennung und Einzigartigkeit. Sie ist ein künstlich geschaffenes Selbstbild, das eine Gruppe durch gemeinsame Werte, kulturelle Traditionen, historische Erfahrungen oder politische Ideologien definiert.

Ursprung und Mechanismen des kollektiven Egos

Das kollektive Ego wird durch die Wiederholung von Narrativen genährt, die betonen, was eine Nation, eine Partei oder eine Gruppe ausmacht und von anderen unterscheidet. Dabei spielen Faktoren wie Nationalstolz, kulturelle Errungenschaften oder historische Erfolge eine zentrale Rolle. Gleichzeitig entsteht eine starke emotionale Bindung an die Idee von "Wir" gegenüber "den Anderen". Diese Trennung wird oft durch Abgrenzung, Misstrauen oder sogar Feindseligkeit gegenüber anderen Gruppen verstärkt.

Ein Beispiel hierfür ist die häufig anzutreffende Vorstellung, dass die eigene Nation oder Partei überlegen sei – moralisch, intellektuell oder kulturell. Diese Überzeugung stärkt das Gefühl der Zugehörigkeit und gibt den Mitgliedern ein scheinbar festes Fundament, auf dem sie ihr Selbstbild aufbauen können. Doch laut Tolle ist dieses Fundament illusorisch, da es auf Trennung und nicht auf der zugrunde liegenden Einheit allen Lebens basiert.

Emotionale Anhaftung und ihre Folgen

Das kollektive Ego sucht beständig nach Bestätigung und verteidigt sich vehement gegen alles, was es als Bedrohung seiner Existenz wahrnimmt. Diese Dynamik zeigt sich besonders deutlich in politischen Konflikten, Nationalismus oder ideologischen Auseinandersetzungen. Die emotionale Anhaftung an die kollektive Identität führt dazu, dass Menschen die Sichtweise anderer Gruppen ablehnen oder diese sogar als Feinde betrachten. Dies verhindert echte Kommunikation, Verständnis und Zusammenarbeit.

Beispielsweise können historische Verletzungen oder Ungerechtigkeiten zu einem tief verwurzelten Opferbewusstsein innerhalb einer Nation führen, das wiederum Feindbilder erzeugt und aufrechterhält. Parteien hingegen definieren sich oft über ihre Abgrenzung von politischen Gegnern, indem sie diese als "schlecht", "inkompetent" oder "gefährlich" darstellen. In beiden Fällen verstärkt das kollektive Ego die Illusion von Trennung und nährt Konflikte.

Die Illusion des kollektiven Egos überwinden

Eckart Tolle argumentiert, dass diese Anhaftung an kollektive Identitäten auf Unbewusstsein beruht – einer mangelnden Erkenntnis des wahren Selbst, das jenseits von Form, Gedanken und Konzepten existiert. Erst durch das Bewusstwerden dieser Dynamik kann der Mensch sich von der Macht des kollektiven Egos befreien. Dies bedeutet nicht, kulturelle oder historische Unterschiede zu verleugnen, sondern sie als Teil der menschlichen Vielfalt zu akzeptieren, ohne sich emotional daran zu binden.

Das Erkennen des wahren Selbst, das jenseits von kollektiven Identitäten liegt, eröffnet die Möglichkeit, die universelle Einheit allen Lebens zu erfahren. Wenn Menschen sich nicht länger ausschliesslich über ihre Zugehörigkeit zu einer Nation, Partei oder Gruppe definieren, entsteht Raum für Mitgefühl, Verständnis und Frieden.

Praktische Schritte zur Bewusstwerdung

Eckhart Tolle schlägt vor, dass dieser Transformationsprozess mit der Achtsamkeit im gegenwärtigen Moment beginnt. Wer innehalten und die Muster des kollektiven Egos beobachten kann, ohne sich mit ihnen zu identifizieren, setzt den ersten Schritt in Richtung Befreiung. Es geht darum, die Stille hinter den Gedanken und Emotionen zu spüren – eine innere Dimension, die frei ist von Identifikation und Trennung.

In der Praxis könnte dies bedeuten, die Narrative einer Nation oder Partei kritisch zu hinterfragen und sich zu fragen, ob sie auf Wahrheit oder nur auf egozentrischen Mustern beruhen. Es erfordert Mut, sich von der emotionalen Anhaftung an diese Identitäten zu lösen, aber es eröffnet eine tiefere Dimension des Seins, in der wahrer Frieden möglich wird.

 

Die Anhaftung an kollektive Identitäten, wie sie bei Nationen oder Parteien häufig vorkommt, ist laut Eckhart Tolle eine Form des Egos, die auf Trennung und Illusion basiert. Sie führt zu Konflikten, Polarisierung und Leid. Doch durch das Erkennen und Loslassen dieser Anhaftung können Menschen und Gesellschaften einen Bewusstseinswandel erfahren, der zu Einheit, Mitgefühl und Frieden führt. Dieses Loslassen ist nicht nur ein individueller, sondern ein zutiefst kollektiver Schritt hin zu einer neuen Bewusstseinskultur.

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